RESOWI-Zentrum, SZ 15.22, G2
Die Sozial- und Geisteswissenschaften durchlaufen seit den 1960er Jahren in immer kürzeren Abständen sogenannte turns. Damit werden zum einen schlicht die Zuwendung zu neuen, als bislang vernachlässigt geltenden Gegenständen bezeichnet, zum anderen auch ihrem Anspruch nach weiter reichende wissenschaftstheoretisch-epistemologische Verschiebungen. Mitunter fällt auch beides zusammen. Nach dem linguistic turn, dem sociology of knowledge turn, dem interpretive turn, dem body turn und dem practice turn (um nur einige zu nennen) wird nun seit etwa zwei Jahrzehnten neben dem realist turn ein material turn ausgerufen. Dieser „neue Materialismus“ (Karen Barad) – der vielleicht seinerseits, so lautet zumindest meine Vermutung, bald von einem gerade anhebenden spiritual turn abgelöst werden wird – ist in sich vielfältig und reicht von der symmetrischen Anthropologie der Aktor-Netzwerk-Theorie von Latour, Callon u.a. über die Materiale Semiotik von John Law bis hin zum erwähnten ‚New Materialism‘, der die Prozesshaftigkeit des ‚mattering‘ beschwört.
Der vorgesehene Beitrag greift vor diesem Hintergrund mit skeptischer Perspektive die Frage auf, ob die Diskursforschung einer ‚materialistischen Wende‘ bedarf. Zwar stimmt er der damit verbundenen Diagnose eines Defizits im Hinblick auf die Analyse materieller Dimensionen diskursiver Strukturierungen und Prozesse zu. Doch bevor er dieser Feststellung in die Forderung einer Ersetzung oder Überwindung diskurstheoretischer Perspektiven folgt, schlägt er eine genaue Prüfung insbesondere Foucaultscher Überlegungen im Anschluss an den Dispositivbegriff vor. Dessen Reichweite ist, so lautet die Bilanz, bislang aufgrund verschiedener partikularer Entwicklungen der Rezeption erst in Ansätzen für die empirische Diskursforschung nutzbar gemacht worden. Er eignet sich jedoch - so lautet eine zweite These - in besonderem Maße für die Berücksichtigung von Materialitäten in Forschungsvorhaben der Diskursforschung und ist insbesondere affin zur Materialen Semiotik von John Law. Dagegen mündet die Perspektive des New Materialism letztlich in Forschungsprogramme, die nicht einfach eine Engführung der Diskursforschung korrigieren, sondern aus dieser hinausführen und ganz andere Fragestellungen verfolgen.
Prof. Dr. Reiner Keller ist als Professor für Soziologie an der Uni Augsburg tätig. Im Anschluss an den Gastvortrag leitet er am 17. und 18.6. eine Forschungswerkstatt zur Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Weitere Infos und Anmeldung unter https://grazer-methodenkompetenzzentrum.uni-graz.at/de/workshops/programm-und-anmeldung/studierende-und-bedienstete-der-uni-graz/?esraSoftIdva=188928